Badische Zeitung 26. Mai 2008

Badische Zeitung vom Montag, 26. Mai 2008       Bericht als JPG

Vier Zelte und eine kleine Utopie 


Utopie-Monat: Die "Aktion Bleiberecht" errichtete ein Solidaritätscamp am Flüchtlingswohnheim an der Bissierstraße


Von unserer Mitarbeiterin Anja Bochtler


Die vier Zelte stehen für ein bisschen Hoffnung. Denn: "In der Gesellschaft fehlt das Bewusstsein für unsere Situation" , sagt ein junger Mann aus Nigeria. Als am Freitag die überwiegend jungen Leute rund um die "Aktion Bleiberecht" vor der Flüchtlingsunterkunft mit dem Aufbauen ihrer Zelte begannen, fand er das gut. Das "Solidaritätscamp" an der Bissierstraße am Wochenende wollte Öffentlichkeit schaffen, passend zum derzeitigen Aktionsmonat "Die Utopie leben" . 


Es tröpfelt. Die Kinder aus der Flüchtlingsunterkunft stört das nicht. Sie rennen mit den Campern auf dem Fußballplatz dem Ball hinterher. Zwischen den Zelten stehen große Schüsseln mit Gemüse. "Hier gibt’s Gespräche, Lachen, nette Menschen und Essen. Alles umsonst!" , sagt ein Mann aus dem Libanon und schüttelt etwas ungläubig den Kopf. So sehen Utopien aus. Auch wenn es eine kleine ist, zu der kaum jemand stößt außer den Bewohnern und den rund 50 Utopisten, die alles vorbereitet haben. 


Eine Öffentlichkeit im weiteren Sinn entsteht nicht vor der Flüchtlingsunterkunft, die als einzigen Nachbarn das neue Gebäude des am Wochenende menschenleeren Regierungspräsidiums hat. Macht nichts, sagt der Mann aus dem Libanon, der in einem Kreis mit anderen Männern steht. Sie kommen aus Pakistan, Syrien, dem Irak. Die Zelte bringen Abwechslung in einen einförmigen Alltag, den der Mann aus Nigeria mit Resignation beschreibt: "Wir essen und schlafen die ganze Zeit." Früher hat er Medizin studiert, jetzt liegt alles brach, seine Intelligenz, sein Wissen. Arbeiten? Verboten. Den Landkreis verlassen? Verboten. Es ist ein Leben auf viereinhalb Quadratmetern Wohnfläche pro Person und der dauernden Angst, dass die Polizei zur Abschiebung kommt. Die Probleme sind seit Jahren dieselben, ändern tut sich nichts. Nur die Menschen wechseln. Der Mann aus Nigeria ist einer der Neuesten. Er will anonym bleiben, bloß nicht auffallen. Seit einem Jahr ist er hier, es war ein langes Jahr. 


Azad Jamil aus Syrien ist das Warten schon drei Mal so lang gewohnt. Seine Frau lebt auch hier, doch bei den Utopie-Campern taucht sie nicht auf. Nur Männer und Kinder kommen, reden, essen, spielen Fußball. Wo sind die Frauen? Rosette Jamil bleibt lieber in der Enge der zwei Zimmer in der Unterkunft, die sie mit ihrem Mann und drei kleinen Kindern teilt. Sie ist psychisch traumatisiert, hat oft Angst und zieht sich zurück. Deswegen hoffen die Jamils, dass sie bald aus der belastenden Flüchtlingsunterkunft in eine "normale" Wohnung ziehen können. Doch bis über ihren Antrag entschieden wird, kann viel Zeit vergehen. Der Flüchtlingsalltag ist weit weg von jeder Utopie.