Der Landkreis Freudenstadt und die Essenspakete

Regionales Bündnis Baden-Württemberg
c/o Aktion Bleiberecht Freiburg
Adlerstr. 12
79098 Freiburg

 Freiburg / Karlsruhe 11. März 2013

 Herrn Dr. Klaus Michael Rückert
Landratsamt Freudenstadt
Postfach 620
72236 Freudenstadt

Brief vom Landratsamt                Zweiter Brief an das Landratsamt

Sehr geehrter Herr Rückert,

vielen Dank für Ihr Schreiben vom 31. Januar 2013.
Die Versorgung der Geflüchteten mit Sachleistungen (Essenspakete und Wertgutscheinen) ist und bleibt ausgrenzend und diskriminierend.

Anwendungshinweise

Der Ermessensspielraum der neu gefassten Anwendungshinweisen lässt die Auszahlung der Leistungen als Geldmittel grundsätzlich zu. Allein die Tatsache, dass Heidelberg, Tübingen, Mannheim, Stuttgart, Landkreis Böblingen und weitere Landkreise bereits auf Geldleistungen umgestellt haben, zeigt eine andere Praxis. In Freiburg, wie auch im Landkreis Reutlingen wird demnächst ebenfalls auf Geldleistungen umgestellt.

Klassifizierung einer Bevölkerungsgruppe

Mit ihrer Meinung, dass die Geflüchteten Bargeldleistungen nicht „zweckmäßig verwenden“ könnten (würden), klassifizieren Sie eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, hier die Geflüchteten. Sie produzieren damit ein scheinbares „Wissen“ über die „Merkmale“ des „Anderen“, das zum Ansatzpunkt hierarchischer Identifizierung wird. Ihre Definition heißt, Asylantragsteller können nicht mit Geld umgehen, sie würden es nicht „zweckmäßig verwenden“, was immer das auch heißen soll. Bafög-Bezieher können es, ALG I und ALGII – Bezieher können es, Rentner können es, aber Asylsuchende können es nicht. Bei ihrer sozialen Praxis, bei der Merkmale (Asylsuchender) zur Klassifizierung dieser Bevölkerungsgruppe benutzt werden , entsteht eine Ungleichbehandlung und damit Rassismus. Sie entmachten die geflüchteten Menschen, nehmen ihnen die Selbstbestimmung, entwürdigen und schränken damit die Rechte der Betroffenen ein.

Essenspakte als Druckmittel

In ihrem Brief erwähnen Sie, dass nur durchschnittlich „ca. 60 Prozent der in den Gemeinschaftsunterkünften gemeldeten Personen Lebensmittelpakete entgegen nehmen. Die restlichen Personen halten sich entweder tatsächlich nicht in den Gemeinschaftsunterkünften auf oder verfügen offenbar über Mittel, die ihnen die anderweitige Deckung ihres Bedarfs erlauben.“

Bereits am 14. November 2012 äußerte sich Robert Bornhauser, Leiter des Sozialamts des Freudenstädter Landratsamts in diese Richtung. „Ein wichtiger Grund dafür, dass es im Landkreis Freudenstadt Sachleistungen gebe, sei die Tatsache, dass nur etwa 60 Prozent der gemeldeten Asylbewerber in den Gemeinschaftsunterkünften leben, 40 Prozent aber abtauchen, obwohl für Asylsuchende Residenzpflicht besteht. Sie wählen in der Regel keine Nahrungsmittel von den Listen aus, und so muss der Landkreis für sie auch keine Essenspakete bezahlen. Gäbe es Geld statt Sachleistungen, würden es, so Bornhauser, auch die Asylsuchenden bekommen, die gar nicht in den Unterkünften wohnen.“

Kurz nach der Veröffentlichung des Artikels begannen am 20. November 2012 die Flüchtlinge ihren legitimen Protest. Das wird wohl auch der Hintergrund sein für die ca. 40 Prozent. Außerdem zweifeln wir die Aussage an.

Die Geflüchteten haben selbst übereinstimmend berichtet, wer einmal oder zweimal keine Nahrungsmittel auswählt, bekommt auch kein Taschengeld. Sollte das tatsächliche Praxis im Landkreis Freudenstadt sein, ergeben sich dadurch weitere kritische Fragen.

Spart der Landkreis Sozialgelder durch illegitime migratíonspolitische Maßnahmen?
Ist die Verweigerung der Zahlung der Gelder rechtlich legitim?
Wird die Sachleistungsversorgung als Druckmittel gegenüber den Geflüchteten benutzt, obwohl nach dem Urteil des BVG ihnen die Zahlung für ihr Überleben zusteht?
Wer gibt die Anweisungen für die Sanktionen und wer führt sie aus?

Zum Urteil des Bundesverfassungsgericht

Zunächst möchte ich einige Auszüge aus der Stellungnahme zur Novellierung der verfassungswidrigen Regelungen des Asylbewerberleistungsgesetz des Flüchtlingsrat Berlin zitieren:

„Die Sachleistungen nach § 3 Abs. 1 AsylbLG waren nicht Gegenstand des BVerfG-Urteils zum AsylbLG, da die in NRW lebenden Kläger Leistungen nach § 3 Abs. 2 AsylbLG in bar erhielten, wie es nach Feststellung des BVerfG auch bundesweit überwiegende Praxis ist.

Derzeit werden nur in Bayern flächendeckend „echte“ Sachleistungen (Essenspakete usw.) gewährt. Auch in Baden-Württemberg und im Saarland gibt es in einigen Fällen noch Sachleistungen. Wertgutscheine werden in Niedersachsen und mancherorts in Baden-Württemberg ausgegeben. Geldleistungen werden in Hamburg, Berlin,  Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Hessen überall und in NRW, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein (10 von 11 Kreisen), Sachsen (12 von 13 Kreisen), Brandenburg (15 von 18 Kreisen) und Thüringen (22 von 24 Kreisen) ganz überwiegend ausgezahlt.

In Baden-Württemberg waren Heidelberg und Tübingen die ersten Orte, die Ende 2012 auf Bargeld umgestellt haben. Mittlerweile sind weitere Landkreise hinzugekommen.

Das BVerfG wiederholt in seinem Urteil nur den schon im Hartz IV Urteil enthaltenen Satz, „ob der Gesetzgeber das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen.“

Es wäre unzulässig, aufgrund dieses einen Satzes die Sachleistungen für verfassungskonform zu erklären. Die Übergangsregelung des BVerfG bestätigt, dass das Urteil über die Sachleistungen nicht entschieden hat, und lässt zugleich Zweifel anklingen: „Die Entscheidung des Gesetzgebers in §3 Abs. 2 Satz 1 AsylbLG, zur Deckung des existenzsichernden Bedarfs vorrangig Sachleistungen vorzusehen, wird durch diese Übergangsregelung nicht berührt. Unter der Voraussetzung und in der Annahme, dass Sachleistungen aktuell das menschenwürdige Existenzminimum tatsächlich decken, greift die Übergangsregelung nicht in die Regelungssystematik des AsylbLG hinsichtlich der Art der Leistungen ein.“

Dabei ist davon auszugehen, dass die Beträge nach § 3 Abs. 2 AsylbLG eine absolute Untergrenze für den Wert der Sachleistungen bilden. Zwar sind seitens der Sozialbehörden wesentlich höhere Kosten als die Beträge nach § 3 Abs. 2 aufzuwenden, um existenzsichernde Sachleistungen zu gewährleisten, da die Kosten für Logistik usw. eingehen. Maßstab für den Vergleich des Wertes der erhaltenen Sachleistungen im Hinblick auf die Beträge des § 3 Abs. 2 AsylbLG kann jedoch nur das Preisniveau der einschlägigen Niedrigpreis-Discounter sein.

Ungelöst bleibt bei der Sachleistungsversorgung das Problem der fehlenden Proportionalität

und der fehlenden Möglichkeit zum Ausgleich und Wirtschaften zwischen den einzelnen Bedarfen. Vor allem spricht die faktische Unmöglichkeit einer effektiven tatsächlichen und rechtlichen Kontrolle, ob, wann und inwieweit der individuelle Bedarf durch die erbrachten Sachleistungen tatsächlich gedeckt wird, dagegen, dass eine verfassungskonforme Sachleistungsversorgung überhaupt möglich ist.

Anhand welcher Maßstäbe soll ein Asylsuchender nachweisen, dass er heute z.B. eine Scheibe Brot und/oder Käse zu wenig erhalten hat, und auch zu wenig Obst, Gemüse, Milch usw., wie kann er insoweit seine individuelle Bedarfsmengen glaubhaft machen und praktisch und rechtlich durchsetzen, um heute und künftig quantitativ und qualitativ ausreichend Nahrungsmittel zu erhalten?

Muss der Flüchtling zur Glaubhaftmachung ärztliche Atteste oder Ernährungswissenschaftliche Gutachten zu seinem individuellen Kalorien – und Nährstoffbedarf vorlegen, wie kann der dies beschaffen, wer bezahlt ihm dies? Wie kann er sei nen aktuellen Verbrauch und seinen ungedeckten Bedarf an Lebensmitteln, Kleidung und Schuhen konkret unter Beweis stellen? Ist er hierbei letztlich nicht immer auf das Wohlwollen von Sachbearbeitern und Sozialrichtern angewiesen, die weder bereit noch in der Lage sind, sich mit derartigen Details in jedem Einzelfall im Rahmen einer umfassenden Beweiserhebung auseinanderzusetzen? Die Sachleistungen sind systembedingt keiner effektiven gerichtlichen Kontrolle zugänglich und genügen daher nicht den Maßstäben an ein verfassungskonformes Existenzminimum.

Im Ergebnis bleiben nach dem Urteil des BVerfG zum AsylbLG die schwerwiegenden Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Sachleistungen bestehen. Rothkegel kritisiert das Sachleistungsprinzip zu Recht als Prinzip „Vogel friss oder stirb.“

Nicht umsonst richten sich die aktuellen Flüchtlingsproteste weniger gegen die zu geringen Geldbeträge nach dem AsylbLG als vielmehr gegen die auch nach dem Urteil des BVerfG fortgesetzte Verletzung ihrer Menschenwürde durch die diskriminierende Sachleistungsversorgung , die Einweisung in Sammellager, das Arbeitsverbot und die Residenzpflicht.

Diese Einschränkungen sind zumal in ihrer Kumulation mindestens ebenso verfassungswidrig wie die bisherigen Leistungssätze des AsylbLG.“

Unterschiedliche Behandlung unzulässig

Weiterhin verstößt die Versorgung mit Sachleistungen gegen das Diskriminierungsgebot des Artikel 3 und den Schutz der Menschenwürde gemäß Art. 1 GG.

Eine unterschiedliche Behandlung von Deutschen und Nichtdeutschen bzgl. der Inanspruchnahme von sozialen Rechten und Leistungen verbietet auch Art.2 des UN-Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Er beinhaltet das Recht auf angemessenen Lebensstandard (insbesondere bzgl. Ernährung, Wohnen, Kleidung) in Art.11, das Recht auf ein Höchstmaß an körperlicher und psychischer Gesundheit (Art.12), das Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben (Art.15) und anderes mehr. Der UN-Pakt ist für die BRD seit 1976 verbindliches (Völker) Recht (Art.25 GG) . Die Regelungen des UN-Paktes sind damit unmittelbar geltendes Recht und gehen den Gesetzen vor.

Wir bitten um eine weitere Antwort!
Mit freundlichen Grüßen
Regionales Bündnis Baden-Württemberg