Demonstration in Calais gegen polizeiliche Repression

EXPULSIONS À CALAIS : APPEL À MOBILISATION LE 12 JUILLET

SAMEDI 12 JUILLET À 14H PLACE D’ARMES

SÄUBERUNG DER ÄRMELKANAL-KÜSTE VON MIGRANT/INN/EN IN CALAIS.

Von Bernard Schmid aus Paris / Aus den Augen, aus dem Sinn: Wieder einmal hat die französische Innenpolitik bewiesen, dass sie in der Lage ist, die Ärmelkanalküste rund um Calais von das Bild störenden Migranten zu „säubern“ – ohne das geringste Problem zu lösen.

Am vergangenen Mittwoch (02. Juli) räumten ein Großaufgebot von Polizisten und Gendarmen um sechs Uhr die Essenausgabestelle, die Ehrenamtliche und Aktivisten mehrerer Initiativen für Flüchtlinge eingerichtet hatten. 610 Personen wurden vorübergehend in Polizeigewahrsam genommen, drei vorläufig festgenommene Initiativenmitglieder nicht mitgerechnet, und auf Polizeiwachen in der gesamten Region verteilt. In ihrer Mehrheit handelt es sich um Eritreer und Sudanesen, die zwei der übelsten Diktaturen in Afrika entflohen sind, sowie um Menschen aus den Bürgerkriegsländern Syrien und Afghanistan.

An der Ärmelkanalküste hoffen sie inständig auf eine Gelegenheit, nach Großbritannien übersetzen zu können, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Mehrheitlich streben sie nach danach, einen Flüchtlings- oder sonstigen Aufenthaltsstatus in Kontinentaleuropa zu erlangen, sondern es zieht sie nach England. Aus sprachlichen Gründen – Englisch ist bei ihnen verbreiteter als andere europäischen Sprachen, zumal im Sudan und in Afghanistan oder auch im Irak, die alle drei dereinst durch die Briten kolonisiert wurden -, weil sie dort bereits Familie oder Bekannte haben. Und auch, weil im seit einem Vierteljahrhundert neoliberal durchstrukturierten Großbritannien der Arbeitsmarkt durchlässiger ist. Das bedeutet zwar mehr Ausbeutung, oft überlange Arbeitszeiten und wenig Sicherheit für die Beschäftigten. Aber eben auch vielfach Möglichkeiten für Migranten mit oder ohne Aufenthaltsdokumenten, irgendwo einen Platz im sozialen Gefüge zu finden.

Die britischen Behörden tolerierten dies anfänglich einmal. Doch unter dem Druck einer öffentlichen Meinung im eigenen Land, der die Politik irgendwelche „Erfolge“ ihres Handelns präsentieren muss, verschrieben auch sie sich dem Kampf gegen „illegale Migration“ – ist deren demonstrative Bekämpfung doch einfacher, als zu versuchen, etwa die Finanzfirmen in der City of London unter Kontrolle zu bekommen. Im Jahr 2002 vereinbarten die damaligen Innenminister auf britischer und französischer Seite, Jack Straw und Nicolas Sarkozy, ostensiv die Schließung des Lagers in Sangatte, zwölf Kilometer von Calais entfernt. Dort hatte das Rote Kreuz eine Notunterkunft eingerichtet, die für 800 Personen geplant, jedoch in jenem Jahr real von 1.800 Personen belegt war. Durch das Dichtmachen des Lagers wurden sie vertrieben, aber ohne ihnen eine Perspektive zu geben. Deswegen bildeten sich neue, dieses Mal nicht von Hilfsorganisationen betreute und mit sanitären Lagern ausgestattete „wilde“ Lager. Das wohl bekannteste von ihnen war der „Jungle“ in einem Außenviertel von Calais, der seinerseits 2009 geräumt und abgerissen wurde.

In jüngster Zeit hatten sich zunächst zwei Zeltlager mitten in der Stadt Calais gebildet, das eine umfasste 85 und das andere 120 Zelte, am Rande eines Kanals. Das Gebiet wurde immer stärker zum Brennpunkt, seitdem vor allem im vergangenen Frühjahr eine rechtsextreme Bürgermiliz immer wieder versuchte, die Gemüter vor Ort zum Kochen zu bringen. Das Kollektiv Sauvons Calais! („Retten wir Calais“!) bedrohte die Lager, sammelte Unterschriften dagegen und rief die Bürger zur so genannten „Selbsthilfe“ auf. Anführer der Gruppierung ist Kévin Rèche, der unverhohlen ein auf seine Haut eintätowiertes Hakenkreuz spazieren trägt.

Am 13. April rief seine Gruppe zusammen mit der Jeunesse identitaire („Identitäre Jugend“), der Jugendorganisation des Bloc identitaire – eine außerparlamentarisch und stark auf Agitprop setzende faschistische Organisation – zu einer Demonstration in Calais auf. Allerdings gab es einen Gegenaufruf aus antirassistischen Gruppen sowie der Hausbesetzerszene, an jenem Sonntag zu einer Gegendemonstration zu mobilisieren sowie das ganze Wochenende über Gegenaktivitäten zu organisieren. Die rechtsextreme Demonstration wurde daraufhin „aufgrund von Sicherheitsbedenken“ verboten. Sauvons Calais wird zudem verdächtigt, mit den Schüssen in Verbindung zu stehen, mit denen ein Beschäftigter im Sicherheitsgewerbe in der Nacht vom 12. zum 13. Juni aus einem Schrotgewehr abfeuerte. Zwei Sudanesen wurden dabei im Abstand von zwei Stunden gefährlich verletzt, der Prozess des Schützen begann am Montag dieser Woche (07. Juli).

Auch ansonsten steht die Stimmung in Calais unter Druck. Seit 2002 verzeichnet auch der Front National überdurchschnittliche Wahlergebnisse in der Gegend, bei den diesjährigen Europaparlamentswahlen etwa erhielt er in Calais 31 Prozent.

Unterdessen wollen die Migranten lediglich die Möglichkeit erhalten, auf Zeit menschenwürdig unterzukommen, bevor sie das Übersetzen nach England versuchen. Eine Minderheit von ihnen wagt die Überfahrt es auf Floßen treibend oder durchschwimmt sogar den Ärmelkanal mit Schwimmflossen, während die Mehrzahl versucht, an den Einladestellen zu den Fähren oder an der Einfahrt zum Eurotunnel auf die Verladeflächen von LKWs zu gelangen. Nur einer kleinen Minderheit gelingt dies, und viele Fahrer sind inzwischen mit Stöcken ausgestattet. Aber aufgrund der großen Zahl von gleichzeitig Anstürmenden an den Warteschlangen für LKWs entgehen mitunter einige eingestiegene blinde Passagiere der Aufmerksamkeit von Polizei oder Fernfahrern.

Viele geben es aber mit der Zeit auch einfach auf und resignieren, zumal die oft mafiösen Schleuser- der „Schlepper“organisationen – deren Geschäftsgrundlage die Prohibitionspolitik gegen Grenzübertritte darstellt – ihr Territorium brutal behaupten und es auszudehnen versuchten. Konnten früher Migranten oft noch wählen, ob es sie auf eigene Faust versuchten oder aber ihre Chancen zu verbessern trachteten, indem sie Schleuser bezahlten, schlage Letztere heute oft diejenigen zusammen, die nicht zahlen und auf ihre Dienste zurückgreifen wollen. Ihr Zugriff hat die Lebensverhältnisse in den Durchgangslagern noch verschlechtert und viele zusätzlich entmutigt. Aber jene, die es immer wieder versuchen, brauchen angeblich im Durchschnitt zwischen einem und fünf Monaten, um den Durchschlupf nach England zu finden.

Am 27. Mai wurden die beiden Zeltlager in Calais geräumt, unter dem Vorwand, eine dort grassierende Krätzeepidemie zu bekämpfen. Da die Migranten aber keine sonstige Perspektive hatten, überquerten sie einfach die Straße und ließen sich in der Essenausgabestelle der Initiative „Salam“ zum Schlafen nieder.

Rund 300 Personen übernachteten dort. Die neuerliche Räumung am vorigen Mittwoch geht nun allerdings mit dem Versuch einher, die Personen für längere Zeit aus dem Raum Calais zu entfernen – jedenfalls in den Augen der lokalen Öffentlichkeit, der dies vorgespiegelt wird. Zwei Drittel der Festgenommenen wurden nach kurzer Zeit wieder freigelassen, jedoch 210 Personen auf Abschiebezentren in mehreren Teilen Frankreichs verteilt. Niemand wurde jedoch in das Abschiebegefängnis Coquelles gesteckt, das nur sechs Kilometer von Calais entfernt liegt. Stattdessen wurden die Menschen nach Lille, aber auch ins westfranzösische Rennes, nach Rouen sowie in den Raum Paris entsandt und auf mehrere Abschiebzentren verteilt.

Dort blieb aber nur eine kleine Minderheit. Eine kleine Gruppe von Afghanen wurde nach Italien zurückgeschoben, wo sie in die EU eingereist waren und einen Asylantrag gestellt hatten, um sie nicht sofort beim Grenzübertritt abgelehnt zu werden. Die Eritreer in den Abschiebehaftanstalten rund um Paris wurden an diesem Montag Vormittag wieder freigelassen, was die Behörden den Solidaritätsinitiativen bereits am Wochenende angekündigt hatten. Ebenso kamen zehn Afghanen aus Palaiseau in der Nähe von Paris bis zu Montag frei.
Sie werden bald wieder auf den Migrantenrouten unterwegs sein, und aller Wahrscheinlichkeit nach in Kürze auch wieder im Raum Calais auftauchen. Die Räumung und Zwangsverschickung in andere Teile Frankreichs sollte sie davon abschrecken. Aber wer etwa vor dem Terrorregime Eritreas fliehen konnte und zwei Dutzend Länder durchquert hat, wird sich davon kaum abhalten lassen.